Artikel
Videos
Podcasts
Suche
Close this search box.

Armut untergräbt Grundrechte der Europäer

caption + source

Die Eurobarometer-Umfrage, die Mitte April veröffentlicht wurde, und der Anfang Juni erschienene Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), geben Aufschluss darüber, wo wie bezüglich Armut und Ungleichheit heute stehen. 

Aus dem Eurobarometer geht hervor, dass Bürgerinnen und Bürger in Europa im Vorfeld der EU-Wahlen sehr besorgt waren (und es nach wie vor sind) über die Zunahme der Armut und der sozialen Ausgrenzung. Auch die Frage nach einer angemessenen Gesundheitsversorgung für alle treibt Europas Bürger um. 

Einwanderung hatte für die europäischen Wähler keine Priorität, obwohl das Thema in den Medien und in den politischen Kampagnen der rechten Parteien im vergangenen Jahr sehr präsent war“, erklärt die Brüssel-Korrespondentin des Guardian, Lisa O’Carroll.

Die Bürgerinnen und Bürger der EU hätten sich gewünscht, dass der Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung (33 %) und die Unterstützung des öffentlichen Gesundheitswesens (32 %) als Hauptthemen im Wahlkampf diskutiert werden. Andere wichtige Themen wären ihnen die Unterstützung der Wirtschaft und die Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie Verteidigung und Sicherheit, insbesondere in den Nachbarländern Russlands (Dänemark, Finnland und Litauen) gewesen.  

Was die öffentliche Gesundheit anbelangt, so besteht vier Jahre nach der Corona-Pandemie, die gezeigt hat, dass es nicht genügend Krankenhausbetten (die in den letzten 30 Jahren durch Kürzungen abgebaut wurden), nicht genügend Medikamente und nicht genug und ausreichend bezahltes Personal gibt, verständlicherweise Grund zur Sorge.  

Doch wurde diese von der Politik nicht genug beachtet. 

Denn die zitierten Zahlen unterscheiden sich nicht wesentlich von denen der gleichen Umfrage im Dezember 2023. Auch nicht zu vergessen ist, dass laut Eurostat im Jahr 2022 95,3 Millionen Menschen in der EU von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht waren, was 21,6 % der Bevölkerung ausmacht.

Armut schmerzt und es leiden auch Grundrechte darunter

Auf EuObserver kommentiert Nikolaj Nielsen die Daten des jüngsten Berichts der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) und kommt zu dem Schluss, dass die Grundrechte in Europa in Gefahr sind. Und das nicht nur, weil es Regierungen mit immer undemokratischen Praktiken gibt, sondern auch weil Armut und soziale Ausgrenzung zunehmen.  

„Steigende Energie- und Lebenshaltungskosten haben jeden fünften Menschen in der EU in die Armut getrieben”, heißt es in dem Bericht, aus dem ebenfalls hervorgeht, dass Kinder, Frauen, junge Menschen, rassische und ethnische Minderheiten, ältere Menschen, LGBTQI-Personen, Roma und Menschen mit Behinderungen am stärksten von Armut bedroht und in ihren Grundrechten gefährdet sind.

Der Studie nach sind geopolitische Konflikte und die Zunahme von Rassismus dafür verantwortlich, aber auch die Tatsache, dass zivilgesellschaftliche Proteste zunehmend unterdrückt werden: „Exzessive staatliche Eingriffe, insbesondere gegen das Recht auf Vereinigungsfreiheit, friedliche Versammlung und freie Meinungsäußerung, bedrohen die Zivilgesellschaft.”

In der Tageszeitung berichtet Alexandra Kehm über etwas ganz Ähnliches in Deutschland: „Asiaten, Muslime oder Farbige haben ein höheres Armutsrisiko als der Rest der Bevölkerung”. Sie beruft sich dabei auf den Bericht Grenzen der Gleichheit: Rassismus und Armutsgefährdung: „Während 10 % der Frauen und 9 % der Männer von Armut bedroht sind, steigen diese Prozentsätze bei muslimischen Frauen auf 38 und bei muslimischen Männern auf 41 %”, erklärt sie. 

Wie kann sich die Rechtslage verbessern?

Ein, wenn auch blasser Trend für ein soziales Europa ist dennoch vorhanden, wie Esther Lynch, Sekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes und Bart Vanhercke, Forschungsdirektor am Europäischen Gewerkschaftsinstitut betonen: Man denke beispielsweise an die Richtlinie über digitale Arbeit oder die Mindestlohn-Richtlinie

Das Bekenntnis zu Sozialrechten als Säule Europas, das voller guter Absichten steckt, wurde im vergangenen April mit der Erklärung von La Hulpe untermauert. Diese wurde von der EU-Kommission, dem ehemaligen belgischen Premierminister Herman De Croo im Namen von 25 EU-Mitgliedstaaten (mit Ausnahme von Schweden und Österreich), dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, der Mehrheit der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft unterzeichnet, und sollte die Grundlagen für die Zukunft des sozialen Europas legen, d. h. die Sozialagenda für den Zeitraum 2024-2029 festlegen.

Doch sind diese Fortschritte im Alltag der Europäerinnen und Europäer nicht spürbar. Man braucht nur einen Blick in die Presse zu werfen, um Beispiele dafür zu finden. 

Im Guardian berichtet der ehemalige britische Premierminister Gordon Brown über die „Kinder der Sparpolitik”, also die nach 2010 Geborenen, welche „3,4 Millionen der 4,3 Millionen Kinder ausmachen, die im Vereinigten Königreich in Armut leben”. Eine Zahl, die in den letzten zehn Jahren aufgrund von Kürzungen der Sozialleistungen (z. B. die regelmäßige Kürzung des Kindergeldes, das jetzt 20 Prozent weniger wert ist) um etwa 100.000 Menschen pro Jahr gestiegen ist. „In den letzten 14 Jahren gab es zahlreiche dramatische Ereignisse – Brexit, Covid-19 und die Energiekrise infolge des Krieges zwischen Russland und der Ukraine, um nur drei zu nennen. Aber, so fatal diese für das Leben der Menschen auch waren, bleibt die einzige Konstante die Sparpolitik”, erklärt Brown. 

In Frankreich wird derzeit über eine Reform des Arbeitslosenrechts debattiert, die unter anderem von dem Wirtschaftsmagazin Alternatives Economiques als „Massaker“ bezeichnet wird (deren Zukunft aufgrund der anstehenden Wahlen jedoch ungewiss ist): „Noch nie in den 66 Jahren des Bestehens dieses Rechts hat eine Reform die Arbeitslosen so misshandelt, noch nie hat eine Regierung so oft die Sparkeule geschwungen”, schreibt Sandrine Foulon, die an die Kürzungen von 2019-2021 und 2023 erinnert, die nicht unerheblich sind. 

Ein anderes Beispiel? Finnland, dessen Fall der Soziologe und Gewerkschafter Michał Kulka-Kowalczyk in Krytyka Polityczna analysiert. Laut Daten des Dachverbandes Soste, der rund 200 Solidaritätsakteure umfasst, werden etwa 68.000 Menschen mehr unter die Armutsgrenze rutschen aufgrund der aktuellen Sozialhilfekürzungen, darunter 16.700 Kinder. Einem Bericht zufolge, den die Regierung der Kommission vorgelegt hat, werden es sogar 94.000 Menschen sein.

Wahlenthaltung und Ungleichheit

Die Ergebnisse der jüngsten Wahlen sind besorgniserregend, nicht nur wegen des Rechtsrucks, sondern auch wegen der Nicht-Wähler, ein Problem, das wir in Europa gerne vergessen: In der gesamten EU haben 50,8 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben, wobei die Wahlbeteiligung in Belgien, Deutschland und Luxemburg am höchsten war. Aber fast die Hälfte der wahlberechtigten Europäerinnen und Europäer haben beschlossen, nicht an dieser demokratischen Abstimmung teilzunehmen, oder sie konnten es schlicht nicht. Am niedrigsten war die Wahlbeteiligung bezeichnenderweise in Ländern wie Kroatien und Bulgarien, die zu den ärmsten der EU gehören. 

„Soziale und territoriale Ungleichheiten beeinflussen die politische Beteiligung erheblich. Frühere Studien haben gezeigt, dass die Wahlenthaltung in Ländern mit niedrigeren Durchschnittslöhnen häufiger ist; innerhalb der Länder ist die Wahlenthaltung in ärmeren Gebieten und bei Personen aus prekären sozioökonomischen Verhältnissen größer”, erklärt Clara Martínez-Toledano, Professorin für Finanzwirtschaft und Koordinatorin des Projekts zur Verteilung des Wohlstands bei der World Inequality Database.) „Die extreme Rechte gewinnt in den meisten EU-Ländern an Stimmen. Der Fokus auf soziokulturelle Themen, insbesondere auf die Einwanderung, hat sich als wirksam erwiesen, um Wähler aus prekären sozioökonomischen Verhältnissen anzuziehen, die früher linke Parteien gewählt haben, sich aber von diesen Parteien im Stich gelassen fühlen.” 

Dazu kommt die bittere Realität, dass die obersten fünf Prozent der europäischen  Bevölkerung 43,1 % des Gesamtvermögens besitzen, während die weniger reichen 50 Prozent, nur 8 % besitzen, was die meisten EU-Länder jedoch nicht davon abgehalten hat, in den letzten 30 Jahren die Vermögenssteuer abzuschaffen.

Recommendations

Freies Palästina“: Der Schrei des nächsten Hirak in Tunesien?

Polen nach den Europawahlen: Demokraten gewinnen, aber demokratische Werte verlieren

Kooperation oder Neokolonialismus?

Choose your language

Choose your language

You can always edit it later

This site is registered on wpml.org as a development site. Switch to a production site key to remove this banner.